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5. September 2022

Sekundärtraumatisierung in der Sozialen Arbeit

Der Einfluss der Mitarbeitenden in den Einrichtungen des Sozialwesens auf die Qualität des Lebens dort ist enorm. Nicht nur erbringt diese Personengruppe die zentrale Leistung der Einrichtung: Die Betreuung der Menschen, die sie in Anspruch nehmen. Die Mitarbeitenden sind darüber hinaus näher an den betreuten Personen dran als jede:r andere und können Hinweise auf Gewalt früh erkennen, besonders, wenn sie dementsprechend sensibilisiert sind und eine offene Fehlerkultur herrscht.

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In den Diskussionen über Täter:innen wird häufig darüber gesprochen, dass Menschen gezielt Tätigkeiten im Sozialwesen annehmen, um Nähe sowie ein Vertrauensverhältnis zu potentiellen Opfern aufzubauen. Die andere Seite der Medaille sind Personen, die aus entgegengesetzter Motivation diese Berufe wählen und um diese soll es in diesem Artikel gehen. Die sozialen Berufsfelder sind dadurch gekennzeichnet, dass sie gezielt von Menschen mit hohem ethischen Bewusstsein und viel Empathie gewählt werden - Menschen, die idealistisch sind und dazu beitragen wollen, dass marginalisierte Personen oder solche in kritischen Lebenslagen besser versorgt werden. Aus diesem Grund sind die Bedürfnisse der Mitarbeitenden aus einem Gewaltschutzkonzept nicht wegzudenken.

 

Was ist Sekundärtraumatisierung?

Eine Traumatisierung geschieht, verknappt ausgedrückt, wenn ein Individuum mehr erlebt als es mental verarbeiten kann. Wie Menschen auf (potentiell) traumatisierende Geschehnisse reagieren, ist höchst individuell. So kann das gleiche Ereignis unterschiedliche Personen in unterschiedlicher Weise traumatisieren, oder auch nicht. Das gleiche gilt für sekundäre Traumatisierung. Dies ist die Traumatisierung, die geschieht, wenn Menschen nicht direkt von einem schwerwiegenden Ereignis betroffen sind, sondern die Betroffenheit eines anderen Menschen nicht verarbeiten können. Dieses Phänomen wird auch als „Mitgefühlserschöpfung“ genannt.  Es handelt sich um eine übertragene Traumatisierung. Sie kommt zustande, obwohl die helfende Person nicht selbst mit dem traumatischen Ereignis konfrontiert wurde.

Das folgende Zitat von Judith Daniels beschreibt auch die Tabuisierung, die dem Begriff anhaftet:

Professionelle Distanz

Die Gefahren einer Sekundärtraumatisierung für Menschen in den sozialen Hilfesystemen sind bekannt und sind vor allem in den Einrichtungen des Sozialwesens so drängend, da hier oftmals große Nähe herrscht und Mitarbeitende andere Menschen zum Teil über Jahre hinweg betreuen und zu einem engen Lebensumfeld werden.

Im Studium und in den unterschiedlichen Ausbildungen, über die Menschen Berufe im Sozialwesen annehmen, wird das Thema professionelle Distanz in der Regel thematisiert, doch ist dies nichts, was man theoretisch lernen kann, auch wenn es gut ist, die theoretischen Grundzüge kennengelernt zu haben.

In der Arbeit mit Geflüchteten kam seit 2015 ein bedeutsamer Faktor hinzu: Viele Menschen waren und sind dort tätig, die keine entsprechende Ausbildung haben, d.h. sie haben nicht wie die anderen Berufsgruppen gelernt, was sich hinter dem Konzept der professionellen Distanz verbirgt. In dieser Mitarbeitendengruppe ist dann wieder eine Besonderheit zu betrachten: Gerade für Wohnunterkünfte für Geflüchtete sind oft Menschen angestellt, die selbst einen Flucht- oder Migrationshintergrund haben und die Sprachen der Bewohner:innen sprechen. Dies hat natürlich erhebliche Vorteile, die auf der Hand liegen, die diese Mitarbeitenden die Kultur kennen, die Sprache sprechen usw., doch gerade dadurch wird viel mehr Nähe hergestellt und die Mitarbeitenden nehmen viel mehr Anteil und werden in das Leben und die vielfältigen Problemlagen der Bewohner:innen involviert.

Als bedeutende Risikofaktoren für sekundäre Traumatisierung gelten:

  • vorangegangene eigene Traumatisierungen einschließlich vorangegangener sekundärer Traumatisierung;
  • allgemeine Lebensumstände wie Lebensstress und psychische Gesundheit;
  • Merkmale des sozialen Umfeldes;
  • demografische Faktoren wie Alter, Geschlecht, soziale Schicht;
  • Ressourcen und Bewältigungsmechanismen.

 

Helfen als Arbeit – Helfen als Sucht?

Das Bild von Menschen, die im Sozialwesen arbeiten, ist ambivalent: Zum einen ist bekannt, dass sie chronisch schlecht bezahlt sind und Überstunden ableisten. Zum anderen haben sie oft den Ruf, „Engel auf Erden“ zu sein. Diese Kombination klingt auf den ersten Blick ehrenhaft, offenbart aber schnell ein hohes Potential für Burn-outs, und tatsächlich gelten sie als Berufsgruppe mit den höchsten Burn-out-Zahlen, wie aktuelle Zahlen belegen.

Doch der Sachverhalt des Helfens in wesentlich komplexer, da dies ein Verhalten mit Implikationen auf vielen Ebenen ist:

  • Helfen ist sinnstiftend: In einer Zeit großer Oberflächlichkeit ist es wohltuend, die eigene Zeit und Arbeitskraft in etwas zu investieren, das gebraucht wird;
  • Helfen hat positive Konnotationen;
  • Helfen transzendiert das eigene Selbst – in einem Setting mit hohem Stress und hoher Verantwortung kann es geschehen, dass ein Team eng zusammenwächst, da man enorme Anforderungen bewältigen muss. Dadurch können eigene Grenzen leicht übergangen werden;
  • Helfen bedeutet in der Regel direkte Arbeit mit Menschen – diese kann die innere Bereitschaft wecken, mehr zu geben als in der Arbeit mit Gegenständen, also ohne interpersonellen Kontakt.

 

Warum sind in sozialen Einrichtungen tätige Menschen besonders gefährdet?

Eine besondere Gefährdung kann gegeben sein, wenn Angehörige oder andere nahestehende Personen Opfer eines Unfalls, einer schweren Krankheit oder eines Übergriffs werden. Aber auch besondere Berufsgruppen sind diesem Risiko ausgesetzt. Unter diese fallen z.B. Menschen die für die Polizei, Rettungsdienst, Feuerwehr arbeiten. Menschen, die in Einrichtungen des Sozialwesens arbeiten, fallen auch in diese Kategorie, wenn sie auch seltener in diesem Zusammenhang genannt werden.

Zwar sind sie nicht mit der gleichen Intensität und Regelmäßigkeit Vorfällen ausgesetzt, sind allerdings sehr nah an den betreuten Personen und oft liegt eine intensive Bindung zu den betreuten Personen vor. Hier ist ein massiver Unterschied festzustellen, zwischen Polizist:innen, Sanitäter:innen usw. da diese die Personen, auf die sie bei Ihren Einsätzen treffen, nicht kennen.

Personen, die in den Einrichtungen des Sozialwesens tätig sind, kennen die Menschen, denen die Gewalt widerfährt oft gut und in manchen Fällen seit langer Zeit. Besonders dramatisch ist dies, falls der:die Täter:in ebenfalls in der Einrichtung lebt oder arbeitet.

Als besonders gefährdet gelten Fachkräfte, die mit traumatisierten Kindern arbeiten, vor allem, wenn dies in familienähnlichen Strukturen geschieht.

 

Umgang mit Sekundärtraumatisierung

Der Umgang mit diesem Thema sollte auf zwei Ebenen stattfinden:

Personenebene

Darunter fallen alle Ressourcen, die den Mitarbeitenden individuell zur Verfügung stehen und in denen die Initiative von den Mitarbeitenden ausgehen muss. In der Regel ist dies die Bereitschaft an Unterstützungsangeboten teilzunehmen und eigene Bedürfnisse zu kommunizieren.

Einrichtungsebene

Hiermit ist der Rahmen gemeint, in dem die Mitarbeitenden tätig werden. Dies umfasst alles, was von der Einrichtungsleitung an unterstützender Infrastruktur zur Verfügung gestellt wird bis zum Betriebsklima, der Unternehmenskultur und dem Umgang mit Fehlern.

Selbstverständlich sind beide Ebenen eng miteinander verzahnt und aufeinander angewiesen. Häufig bedingen sie einander gegenseitig. So kann eine Supervision nur Wirkung entfalten, wenn sie von den Mitarbeitenden angenommen wird. Gleichzeitig kann die positive Annahme von Supervision Arbeitgeber:innen dazu motivieren, derartige Angebote an die Belegschaft zu unterbreiten.

Ein weiterer Blickwinkel ist es, die Präventionsstrategien an die Phasen von Gewaltprävention zu koppen:

Primäre Prävention kann bedeuten, dass Mitarbeitende von Anfang an darüber aufgeklärt werden, wie Selbstfürsorge aussehen kann. Auf lange Sicht könnte hier schon viel früher angesetzt werden, in dem das Thema Selbstfürsorge (und ihre Grenzen) bereit in der Ausbildung und an der Universität thematisiert werden. Auch in Vorstellungsgesprächen, in denen das Thema Gewaltschutz ein generelles Thema, können solche Themen erörtert werden.

Prävention der zweiten Ebene unterstützt Mitarbeitende in kritischen Situationen. Dies schließt auch Methoden der Selbstfürsorge ein, hier ist aber auch gemeint, dass von Seiten der Einrichtungsleitung Ressourcen in die Hand genommen werden müssen, um z.B. Supervision anzubieten. Hier zeigt sich besonders, wie gut das Klima und die Fehlerkultur in einer Einrichtung sind.

Auf der dritten Präventionsebene geht es darum, wie mit Mitarbeitenden umgegangen wird, die betroffen sind. Es ist besonders wichtig, dass Probleme, Missstände und Fehler angesprochen werden dürfen, ohne dass dies Konflikte schürt. Oftmals bauen sich Krisen und Überforderung langsam auf. In einer Einrichtung mit einer guten Fehlerkultur und in der Achtsamkeit herrscht, fällt es leichter, Kolleg:innen z.B. anzusprechen, wenn einem auffällt, dass sich jemand verändert hat.

Vorsicht vor der Selbstfürsorge-Industrie

Ein letzter bedeutsamer Punkt ist es, Vorsicht mit der Selbstfürsorge-Industrie walten zu lassen. Achtsamkeit, Meditation, Yoga und ähnliche Praktiken sind inzwischen fester Bestandteil der westlichen Kultur und unserem Umgang mit Arbeit geworden. Diese Praktiken sind hilfreich und wertvoll, können aber bei unkritischem und uninformiertem Gebrauch im Sinne einer  toxischen Positivität weiteren Schaden anrichten. Es besteht die Gefahr, äußere Umstände zu internalisieren und sich selbst Vorwürfe zu machen, nicht resilient genug zu sein und zu versagen, was einen Burn-out weiter befeuern kann. Ohnehin belastete Menschen können sich selbst vorwerfen, selbst Schuld an ihren Symptomen zu sein, weil sie nicht "positiv genug" sind.

Missstände „wegmeditieren“ ist keine Lösung, sondern ein Pflaster, das versteckt, was wirklich vor sich geht. Wenn ein extrem geringer Personalschlüssel mit hohem Krankenstand an der Tagesordnung sind und ein toxisches Arbeitsklima herrscht, sind Yoga-Übungen und Schweigen kein ausreichender Umgang und können keine Veränderung ersetzen. Hier gilt es, die Mitte zu finden aus der Arbeit an der eigenen Person und den nötigen Veränderungen der Welt, in der wir leben und arbeiten.

 

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